“Ich weiss, wir sollten mehr tun”

Die Journalistin Helen Hürlimann und der Journalist Jürgmeier haben ein ausgesprochen interessantes, leider aber bisher ziemlich unbeachtetes Buch geschrieben: “Tatort, Fussball und andere Gendereien”. Dabei werden zwei der wichtigsten Dinge im Leben, der Sonntagabendkrimi in der ARD und, eben, der Fussball, auf Rollenbilder und Geschlechterfragen untersucht. Richard Reich hat dazu in der NZZ geschrieben: “Wie Tabu-vermint dieses Terrain ist, belegt die Tatsache, dass einerseits Spitzenfussballer vor einem TV-Millionenpublikum ohne weiteres eine latente Homosexualität ausleben können (Stichwort Jubelszenen), während andererseits schwule Sportler ausgegrenzt, Fussballerinnen generell als Lesben verdächtigt werden.”

Die deutsche Kulturanthropologin Tatjana Eggeling, die zum Thema Homophobie im Sport ihre Habilitation schreibt, sagt im Interview: “Als Fussballer kann man sich (…) nicht hinstellen und sagen ‘Ich bin schwul’, weil man sich nicht sicher sein kann, ob man danach weiterspielen kann.” Das ist, auch in dieser Deutlichkeit, sicher richtig. Für Josef Zindel, Medienchef des FC Basel, haben dennoch “andere Probleme Priorität”, wie er im Buch erklärt. “Ich weiss, wir sollten mehr tun (…); in einem späteren Zeitpunkt müssen wir die Homophobie auch wegkriegen, das ist klar.” 

Man (sic!) kann über diese Prioritätensetzung denken, wie man will: Das inhaltliche Niveau, auf dem sich das dreiseitige Interview mit Zindel bewegt, ist beachtlich und wäre so noch vor fünf Jahren undenkbar gewesen. Es ist ein Verdienst von “Tatort, Fussball und andere Gendereien”, diesen Ansätzen von Progressivität Platz einzuräumen. Die Interviews sind für die rein Fussballinteressierten ohnehin der ergiebigste Teil des Buches. Neben Zindel und Eggeling werden Gespräche geführt mit Nati-Trainerin Béatrice von Siebenthal, FC-Winterthur-Geschäftsführer Andreas Mösli und FCZ-Südkurven-Aktivist Luca Salomon. Letzterer verneint die Existenz homophober oder sexistischer Gesänge in der Zürcher Südkurve und entgegnet rhetorisch: “Es fragt sich auch, was sexistisch ist; wenn man die Mutter eines andern als Nutte bezeichnet – ist das sexistisch oder nicht?”

“Tatort, Fussball und andere Gendereien” ist ein gescheites Buch, voll mit Verweisen, Zitaten und Querbezügen. Es ist die bis jetzt vermutlich kritischste Annäherung an den Fussball, die in der Schweiz je publiziert worden ist; daran ändert auch der sehr spezifische Ansatz nichts. Über die wenigen Ungenauigkeiten – Deutschland hat nicht, wie erwähnt wird, von Steh- auf reine Sitzplatzstadien umgestellt – lässt sich hinwegsehen, und die fussballfremden Seiten zu Gewalt, Gleichheit und Geschlecht lohnen die anstrengende Lektüre. Einzig die Kapitel zu den Tatort-Folgen setzen ein etwas gar spezielles Interesse voraus. Wenn “Tatort, Fussball und andere Gendereien” auch die Ehre gebührt, den unsäglichen Hamburger Kommissar und overactenden Softie Casstorff (Robert Atzorn) entlarvt zu haben.

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