Warum er nach der Einkesselung und Registrierung von 800 Personen 84 Stunden gebraucht habe, um sich öffentlich zur Sache zu äussern, will der Tagi von Zürichs Polizeivorsteher Richard Wolff wissen. “Es dauerte so lange, weil ich mir ein genaueres Bild von den Ereignissen am Samstag verschaffen wollte”, erklärt er. Ob denn am Samstag wie schon 2013 zwischen Fans und Polizei verhandelt worden sei, um eine Eskalation zu vermeiden? Wolff: “Es gab Kontakte, wie diese verlaufen sind, weiss ich nicht.” So also sieht “ein genaueres Bild” aus.
Der Grund für die Einkesselung des FCZ-Fanmarsches vor dem Derby war laut Polizei ein “massiver Einsatz” von Böllern und Pyrotechnik und dadurch eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Wann ist etwas massiv? Wer zieht hier die Grenze? Wann ist etwas gefährlich genug, um eine stundenlange Einkesselung und hundertfache Fichierung zu rechtfertigen? Vor zehn Tagen sendete SRF2 einen interessanten Beitrag zum Verfassungsgrundsatz der Verhältnismässigkeit. Es wird darauf hingewiesen, dass bei der situativen Festlegung eines wie auch immer definierten “gesunden Masses” der Polizei sehr viel Macht zugestanden wird. In Zürich ist dieses Phänomen als Slogan bekannt. Er heisst “Erlaubt ist, was nicht stört”.
Sportjournalisten schiessen seltsam scharf. Aus der chauvinistischsten Spalte der Schweizer Presselandschaft, dem Kommentar des Blick-Sportchefs, schreit laut ein Plädoyer gegen Antisemitismus. In den selben Zeilen werden an normalen Tagen Doppelbürger als Verräter angeprangert und Schwerverletzte als Idioten. Die NZZamSonntag vergleicht klagend die Invasion friedlich saufender Everton-Fans (Durchschnittsalter? Einkommensklasse?) mit dem hiesigen FCZ- und FCL-Gesindel. Ähnliches im Tagi: Rotterdamer in Rom, Kölner in Gladbach, Luzerner in St. Gallen, Zürcher im Kessel: alles dasselbe. Fehlgeleitet. Überflüssig. Und sicher keine echten Fans. – Als eine sportfremde Kollegin ihren Berufsstand neulich mit Seegurken verglich, reagierten die Sportjournalisten pikiert. Infame Pauschalisierung! Aber Hooligan, Ultra, Pyro, Antisemitismus, Chaotentum, Dauergesang? Alles dasselbe.
Wieso soll ich mich für Fussballfans einsetzen? Gibt es denn ein Menschenrecht auf Pyro? Das hat mir einmal eine Sozialdemokratin entgegnet. Zurecht. Nur: Wer sagt, er schreite ein wegen massivem Pyroeinsatz, und wer wie der Sozialdemokrat Mario Fehr behauptet, er setze in Sachen Pyro “einfach das Gesetz durch”, der soll es bitte immer tun. Auch im Letzigrund-Stadion, wo in den letzten 24 Monaten mehrmals weit massiver gezündelt wurde als am Samstag draussen auf der Strasse. Oder ist im Stadion, wo alle eng zusammen stehen, die Sicherheit weniger gefährdet? Darüber, Richard Wolff, würde ich mir gerne bald “ein genaueres Bild” machen.