“Tichonows Erben” im Opel Kadett

DSC09602Mitte der 80er Jahre fuhren wir oft an Hallenfussball-Turniere. W. meldete uns dort immer als „Tichonows Erben“ oder als „Tichonows Neffen“ an. W.‘s Faszination für die sowjetische Eishockey-Nationalmannschaft und deren Trainer war legendär. Fetisow, Makarow, Larionow waren seine Idole. Niemand konnte sich erklären, wie er zum – weit und breit einzigen – Ostschweizer Fan der Sowjet-Mannschaft geworden war. Er stammte aus einer gewöhnlichen Familie; der Vater war Pöstler und Anhänger des SC Brühl. Es gab in W.s Familie keine Bewunderung, sondern höchstens die übliche Abneigung gegenüber Sportlern aus dem kommunistischen Osten.

1974 waren wir zusammen an die Eishockey-Junioren-EM in Herisau gefahren, um im Final Schweden – UdSSR zu sehen. W. war vor dem Spiel wie elektrisiert, auf der Quartierstrasse hatten wir mit Kreide gross „CCCP“ gemalt. Aber W. war im Stadion isoliert, das Publikum in Herisau war klar auf Seiten der Skandinavier. Hatten die Russen die Scheibe, ertönte in der Halle ein Pfeifkonzert. Als die Schweden dank einem 4:1 den Pokal holten, wurden sie gefeiert wie Einheimische.

W. spielte selbst kein Eishockey, war aber ein talentierter Fussballer. Sein aufbrausendes Temperament war weit herum bekannt. Von den Gegenspielern wurde er provoziert und kassierte reihenweise gelbe und rote Karten. Bei einem  Spiel mit den A-Junioren verlor er die Nerven, schlug auf den Schiedsrichter ein und wurde vom Fussballverband lange gesperrt. Ich weiss heute noch nicht, ob dies der Grund war für unsere Ausflüge an unbedeutende Grümpel-Turniere  auf dem Land – weil es in St.Gallen mit W. sowieso immer Ärger gab. Aber auch in Hörbranz oder Lustenau kannte man „Tichonows Erben“ nach kurzer Zeit und regelmässig kam es wegen W. zu Rangeleien, Platzverweisen und unschönen Momenten.

Einmal wollten wir mit W.s beigem Opel Kadett an ein Turnier in Urdorf fahren. Auf der Autobahn Richtung Zürich begann der Motor kurz nach Gossau zu stottern. Der Mann von der Pannenhilfe schüttelte bloss den Kopf – kein Öl, Totalschaden! Wir liessen das Auto stehen und nahmen den Zug – zurück nach St.Gallen.

Ich mochte W. – trotz seiner Ausraster,  habe ihn aber seit Jahren nicht mehr gesehen. Er muss um die 55 Jahre alt sein, soll aber aus St.Gallen weggezogen sein. – Wiktor Tichonow ist am Montag 84-jährig in Moskau verstorben.

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