Träume und Mythen im Ruhrgebiet

Es war vielleicht Zufall: Gerade noch hatte ich mich eine Morgenstunde lang mit einem Fan und wandelnden Lexikon des BFC Dynamo über Fussballmythen, ihre oft merkwürdige Entstehungsgeschichte und ihre – wie im Fall des BFC, wo Juniorenspieler offenbar noch heute feindselig als Stasi-Schweine beschimpft werden – zum Teil tragischen Folgeerscheinungen unterhalten. Und dann beginne ich ein eben erschienenes Fussballbuch zu lesen, das sich genau damit befasst: mit Mythen und Träumen und ihrem Ursprung und damit, was es heissen kann, wenn die verklärte Vergangenheit partout die Zukunft retten soll.

Christoph Biermann, Co-Chefredaktor von 11freunde und Autor zahlreicher wegweisender Fussballbücher, legt mit “Wenn wir vom Fussball träumen” ein gleichzeitig melancholisches wie schonungsloses Werk vor. Die Klammer bildet Biermanns Fahrt in seine Heimatstadt Herne, wo er nach der Beerdigung seines Vaters 9783462046274alleine zum Stadion von Westfalia fährt, dem Fussballort seiner Kindheit. Dort beginnt seine Spurensuche: “Meine Wege durch das Ruhrgebiet folgten keinem vorab fest gefassten Plan, die Wahl meiner Gesprächspartner ergab sich oft intuitiv und aus Fragen, die dann wieder neue Fragen ergaben und weitere Begegnungen“, schreibt Biermann im letzten Kapitel. Auf diesen planlosen Wegen, sicher eingefasst zwischen Biermanns Leitplanken aus Menschenfreundlichkeit, Neugier, Fachwissen und Witz, begegnen uns Historiker, Pastoren, Theaterleute, Trainer, Spieler und Fans, und sie alle setzen sich mit oder für Biermann mit der Frage nach der Kraft und der Last von Identität auseinander.

Was da zusammenkommt, stimmt nicht nur den Autor oft traurig: unübersehbare Zeichen von Niedergang und Perspektivlosigkeit, Menschen, die sich an etwas halten, was es nicht einmal früher so gegeben hat, wie sie es sich zurückerinnern. Doch vieles macht auch Mut: Wie Biermann die jüngste Geschichte vom MSV Duisburg erzählt, dessen Beinahe-Untergang zu einer beispiellosen Aktion der Solidarität und des Zusammenhalts führte, lässt niemanden kalt. Und genau darin liegt die Schönheit dieses Buches: Es räumt mit Mythen auf, ohne zu verkopfen. Der Fussball ist selten so, wie wir ihn uns wünschen, und noch weniger war er das jemals, und zugleich sind es gerade auch unsere Wünsche, die den Fussball zu dem machen, wofür wir ihn lieben.

Lesen Sie dieses Buch. Sie lernen ganz nebenbei noch eine erstaunliche Menge über Montanindustrie, Strukturwandel und die Kraft der Kultur.

(Christoph Biermann: Wenn wir vom Fussball träumen – Eine Heimreise. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014)

This entry was posted in Bücher, Deutschland, Kultur. Bookmark the permalink.

One Response to Träume und Mythen im Ruhrgebiet

  1. david says:

    Du bringst es auf den Punkt. Der Biermann hat das wiedermal prima gemacht.

Comments are closed.