Samstag in Mechelen

Brüssel ist bunt und schön, aber wenn nicht gerade Anderlecht spielt, wird es mit Fussball bald kompliziert. So fährt mich der Zug vom beeindruckend verwahrlosten Nordbahnhof ins nahe Mechelen, wo laut einschlägigen Internetseiten der lokale Racing Club ein Heimspiel bestreiten soll.

Mechelen an einem Samstagabend im Oktober ist nicht der Nabel der Welt. Die gut drei Kilometer vom Bahnhof zum Stadion, mitten durch die Stadt, führen an höchstens einem Dutzend Menschen vorbei. Der gotische Grosse Markt lüde zum kurzen Verweilen ein, wäre nicht das erste Haus, das einem ins Auge sticht, die Parteizentrale des Vlaams Belang. Also schnell weiter, im Ohr ein polnisches Gemurmel, das aus irgendwelchen Lautsprechern auf den menschenleeren Marktplatz dringt.

“Entschuldigung, können Sie mir sagen, ob das der Weg ist zum Stadion?” “Zum Stadion von Racing?”, fragen sie zurück. “Ja, genau.” “Kommen Sie mit, wir gehen da auch hin.” Ob ich Engländer sei und komme, um ihren Stürmer Alexander Fisher zu sehen, wollen sie wissen. “Nein, nicht Engländer. Ich will einfach ein Spiel sehen, und Racing Mechelen war das nächste.” Sie scheinen sich zu freuen. Racing, das sei “more like a family thing”, aber die Familie sei doch meist über tausend Köpfe gross an einem Heimspiel. Nicht schlecht für dritte belgische Liga. Bei Tuggen – Kriens waren es 325, obwohl in Tuggen jetzt auch nicht viel mehr los ist als in Mechelen.

Das Stadion ist eine Pracht: grosse Tribüne, rundherum Stehrampen alter Schule, mit Wellenbrechern in den Klubfarben. Seit dem Frühstück habe ich nur einen Apfel gegessen, und so nähere ich mich mit den besten Voraussetzungen dem einzigen Imbissstand. Mutter und Sohn sind am Werk, es brutzelt auf dem Grill. Aber was ist das denn? Diese Dunklen da, das sind doch nicht etwa? “Te zvarze?”, fragt die Frau, als sie mein Interesse bemerkt. “Ja, bitte, so eine Schwarze. Ist das eine Blutwurst, sagen sie mal?” “Ja. Wollen Sie sie nicht?” Doch, natürlich, unbedingt. Wir schreiben den 13. Oktober 2012, im Stadion des Racing Club Mechelen esse ich den ersten Blutwurst-Hotdog meines Lebens. Mehlig im Biss, fantastisch im Geschmack, drei Euro im Preis.

Mit der Wurst in der Hand schaue ich mir die Tribüne von hinten an, Hans guck in die Luft Version Flandern. Im Asphalt klafft ein Loch, gut fünf Zentimeter tief, und vom stundenlangen Regen bis oben hin gefüllt. Da trampe ich rein. Vielen Dank. Es gibt die Boston Red Sox und jetzt auch noch die Mechelen wet sox. Das Spiel: ohne Tore. Die zehn Männer hinter mir intonieren die beste Version von “Ring of Fire”, die ich je gehört habe. Einer singt vor, die andern singen das Echo, und mit jedem neuen Mal variiert der Vorsänger sein Gebrüll: mal hoch, mal tief, mal schneidig, mal kehlig, mal aggressiv, mal lasziv, und die andern ziehen mit. In der Pause treffe ich die Herren vom Hinweg wieder: “Haben Sie gegessen, war es gut? Haben Sie getrunken? Entschuldigen Sie das Resultat, aber wir gewinnen bestimmt noch.”

Sie gewinnen nicht mehr. Die 20 Leute aus Turnhout feiern den unerwarteten Auswärtspunkt. Vom Fuss herauf bin ich zugefroren, den langen Rückweg nehm ich trabend. Am Grossen Markt ist es jetzt dunkel. Die polnische Stimme ertönt noch immer. Und jetzt seh ich, dass sich dazu zwei Augen bewegen, die auf eines der 300 denkmalgeschützten Gebäude Mechelens projiziert werden. Kunst also! Ich stelle mir vor, wie die Leute vom Vlaams Belang sich jeden Abend darüber aufregen und bin zufrieden. We love you Racing, we do.

This entry was posted in Allgemein, Kunst and tagged . Bookmark the permalink.

2 Responses to Samstag in Mechelen

  1. stadtbühl says:

    Wunderbar Herr Admin! Mein Vorschlag: Sie reisen ziellos in der Weltgeschichte herum, testen Bratwürste und empfehlen weitere Orte, wo sich angenehme Fans aufhalten. Schöner kann man nicht über Fussball und das Leben rundherum schreiben. Merci!

  2. Andi says:

    Wirklich ein sehr ein schöner Bericht, danke.

Comments are closed.