Was ist Gegenkultur?

Wann wird aus einer Bewegung eine Kultur und wann eine Gegenkultur? Domenico Mungos Roman “Cani sciolti”, der seit Ende 2011 auf Deutsch vorliegt, bietet Gelegenheit, sich dieser Frage anzunehmen.

Die Geschichte: Im Zuge der Ermittlungen und Massnahmen nach dem sizilianischen Derby 2007, bei dem der Polizist Filippo Raciti ums Leben kam, geraten zahlreiche Exponenten der italienischen Ultra-Bewegung ins Visier von Polizei und Staatsanwaltschaft. So auch die Hauptfigur des Romans, ein Chronist der Bewegung. Auf seiner Flucht nach Lugano (das kurzerhand zur Hauptstadt des Kantons Tessin erklärt wird), sammelt er eiligst Berichte und Erinnerungen seiner Kampfgenossen, um das Erbe der Ultras vor deren Zerschlagung zu retten und zu konservieren. Reise und Roman enden in einer ausgelassenen Feier in der Südschweiz, zu der auch “die Jungs der Banda Basel und viele andere, die zwischenzeitlich aus Italien zu uns gestossen waren”, eingeladen sind.

Der Hauptteil von “Streunende Köter”, so der deutsche Titel, besteht aus den erwähnten Berichten sowie Schilderungen des Erzählers, eines Viola-Ultras wie Mungo selbst, was eine stark autobiografische Prägung der Geschichte nahelegt. Zu lesen sind knapp 300 Seiten über reflexartig geschwungene Gürtelschnallen (zu seiner eigenen mit dem Union Jack scheint der Protagonist ein fast libidinöses Verhältnis zu haben), Kämpfe auf Brücken und in Tunnels von Genua, Brandanschläge auf Extrazüge gegnerischer Fans und das Durchbrechen von Polizeisperren. Dazwischen: zwanzig Jahre italienischer Fussball aus der Kurvenperspektive, die einzige Stärke des Buches und eine Antwort auf das Vorurteil, wonach sich Ultras nie für das Spiel interessiert hätten.

“Cani sciolti” kommt in keinem Moment an zitierte Vorgänger und Vorbilder wie Balestrinis “I Furiosi” oder Kings “Football Factory” heran. Dafür fehlt es einerseits dem Roman an Spannung, Witz und überzeugender Komposition, andererseits wird der dokumentarische Wert der Berichtesammlung durch mangelnde Einordnung und Reflexion, übertriebenen Pathos und, da als Roman deklariert, Fiktionsverdacht verspielt. Der Hinweis auf die Widersprüchlichkeit einer Bewegung, die Gegner (und damit Gleichgesinnte) ins Koma prügelt oder mit Brandsätzen verstümmelt, aber gleichzeitig schöne Choreografien bastelt und für wohltätige Zwecke sammelt, bleibt nichts als ein leeres Zitat, weil nicht zu erfahren ist, ob diese Widersprüchlichkeit auch zu internen Debatten und Selbstzweifeln geführt hat und was, allenfalls, daraus resultiert hätte. So wirkt angesichts all der glorifizierten Gewalt der Verweis auf Kreativität und Nächstenliebe ähnlich schrecklich wie der 3sat-Kommentar in einem Bericht über das Buch, wonach der böse Ultra Mungo heute schöne Literatur doziert und seiner Freundin auf Knien einen Heiratsantrag gemacht habe. Das ist Kitsch, und wie auch immer man, um zur Eingangsfrage zurückzukehren, Gegenkultur definieren mag: Kitsch ist mit Sicherheit keine.

Als Ultra Gegenkultur zu sein – oder gewesen zu sein – das wird im Buch behauptet. Eine Bewegung, die sich wie in Italien von den Strassen in die Stadien verlagert, die den Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit von der Gesellschaft auf die Kurve reduziert und zu einem Schlagabtausch um physische Hoheit und Territorialmacht umgedeutet hat, ist es ohne Zweifel wert, dokumentiert und wahrgenommen zu werden. Es muss aber unweigerlich auch die Frage folgen, ob die Entstehung der Ultra-Bewegung in Italien tatsächlich eine Gegenkultur im Sinne einer staatskritischen, reformistischen oder gar revolutionären Alternative bedeutete oder ob nicht im Gegenteil die Metamorphose einer Bewegung der Strasse mit klassenkämpferischem Anspruch zu einem Fussballphänomen mit hoher (selbst)zerstörerischer Kraft dem Staat in die Hände gespielt hat.

 

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3 Responses to Was ist Gegenkultur?

  1. Kummerbube says:

    “..gegen die Vereinnahmung des kapitalistischen Systems verteidigen..”, sagts mit der Ray-Ban auf der Nase – tatsächlich etwas schizo der böse Pursche.

  2. cosmovitelli says:

    Im Blickfang Ultra wurde das Buch in den Himmel gelobt, als “erstes Buch in dieser Richtung welches literarischen Ansprüchen genügt” und besser als alle englischen Vorbilder… In dem Fall fanden sie’s wohl einfach besser weils um Ultras geht und in einer von ihnen verklärten Zeit spielt, schade eigentlich.

  3. admin says:

    Cosmo, die überschwängliche Rezension in Blickfang Ultra macht insofern Sinn, als sie das Buch ja herausgebracht haben. Das hätten sie kaum gemacht, wenn sie es schlecht gefunden hätten.

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